Gedanken zu meinem ersten Besuch in Brasilien von Mia Winkler

Theoretisch wusste ich, was mich erwarten würde: Ich hatte über Cracolândia gelesen und Bilder hatte ich auch gesehen. Auch früher in meinem Leben war ich an Orten, an denen Armut und Obdachlosigkeit herrschten. Durch unsere Freundschaft zu Familie Ritzi kannte ich die Arbeit von Educare seit ihren Anfängen. Und dennoch: tatsächlich dort zu sein und das Ausmaß des Elends zu sehen hat mich verändert und ein Teil meines Herzens ist dort geblieben – bei den Kindern. Denn diese Kinder unterscheiden sich nicht von unseren eigenen: Sie sind einfach geboren worden. Keiner hat sie gefragt, an welchem Ort oder unter welchen Bedingungen sie gerne aufwachsen würden. Auch jetzt noch sehe ich die Augen mancher Kinder vor mir. Selbst wenn sie lächeln, sieht man ihnen an, was sie schon gesehen haben. Man kann den Schmerz, die Angst, die Sorgen in ihnen sehen und das bricht mir das Herz. 


Ich habe viele Geschichten gehört in dieser Zeit: Geschichten von Kindern, die im Gefängnis geboren wurden oder von ihren Müttern an trostlose Orte gebracht werden, um dort für sie zu betteln, Geschichten von Müttern die immer wieder versuchen, ihr Leben zu beenden oder für 10 Jahre ins Gefängnis müssen, Geschichten von Vätern die auf der Flucht nach einem Diebstahl von Bussen überfahren werden oder einfach ihre Familien verlassen haben. Die meisten Geschichten sind unvorstellbar! Und einfache Antworten von Jugendamt und Polizei gibt es nicht: Es sind einfach nicht genügend Kapazitäten vorhanden, um für all diese Familien Lösungen zu finden. Die Kinderheime sind nicht nach Altersgruppen unterteilt und vollkommen überlastet. Ein Kind aus dem Projekt wurde ins Kinderheim gebracht und dort vergewaltigt. Die Polizei hält sich aus vielen Situationen raus. In den Favelas wird bei Problemen die PCC gerufen und die Polizei legt sich mit denen nicht an. Außerdem sind viele Polizisten korrupt.

All das macht die Arbeit von Educare umso bemerkenswerter für mich. Wer hier arbeitet muss viel aushalten: erschütternde Geschichten, verstörende Bilder und die Tatsache, dass die Kinder jeden Tag wieder zurückkehren in ihr Leben mit all seinen Schrecklichkeiten. Gleichzeitig aber darf man bei Educare so viel Wunderbares erleben: Strahlende Augen beim Spielen im Hof, beim Sport oder in den Kursen, sattgegessene Kinder, ältere Jugendliche, die Verantwortung für die Jüngeren übernehmen, tanzende Kinder und Kinder die im Gottesdienst einfach weinen müssen, weil Gott sie berührt. Viele Kinder kommen regelmäßig und für sie ist Educare ein echtes Zuhause geworden. Ein Zuhause in dem sie Schutz erfahren und Annahme. An einem Freitag in der Freispielzeit schlichtete eine Mitarbeiterin einen Streit zwischen zwei Brüdern. Mein Portugiesisch lässt zu wünschen übrig, aber einen Satz habe ich deutlich verstanden: „Vocês não são lixo na rua! Ihr seid kein Müll auf der Straße!“ Für mich ist das ein Bild für die Arbeit von Educare – sie zeigt den Kindern, was sie sind: kein Müll auf der Straße, sondern wertvolle und geliebte Menschen. Bei den Kindern erscheint diese Botschaft leicht – sie können nichts für ihre Lage, aber die Eltern? An meinem vorletzten Tag habe ich dabei geholfen, den großen Saal für das erste Frauencafé in der Geschichte von Educare vorzubereiten. Wir waren dafür extra auf dem Nachtblumenmarkt und haben alles sehr schön dekoriert. Es wurde leckeres Essen vorbereitet und jede Frau bekam ein Geschenk. Während wir die Blumen in den Vasen arrangierten, unterhielt ich mich mit Eloisa und sie sprach aus, was mir auch durch den Kopf gegangen war: „Manchmal werde ich so wütend auf diese Frauen, weil sie nicht gut für ihre Kinder sorgen. Aber dann erinnere ich mich, dass sie einmal diese Kinder waren.“ 


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