29. Januar 2024

Mias Reise nach Brasilien

„Ein Zuhause in dem sie Schutz erfahren und Annahme.“ Ein Bericht von Mia Winkler die educare besucht hat.

Theoretisch wusste ich, was mich erwarten würde: Ich hatte über Cracolândia gelesen und Bilder hatte ich auch gesehen. In meinem Leben war ich auch früher schon an Orten, an denen Armut und Obdachlosigkeit herrschten. Durch unsere Freundschaft zu Familie Ritzi kannte ich die Arbeit von educare seit ihren Anfängen. Und dennoch: Tatsächlich im “Crackland” zu sein und
das Ausmaß des Elends zu sehen, hat mich verändert und ein Teil meines Herzens ist dort geblieben – bei den Kindern. Denn diese Kinder unterscheiden sich nicht von unseren eigenen: Sie sind einfach geboren worden. Keiner hat sie gefragt, an welchem Ort oder unter welchen Bedingungen sie gerne aufwachsen würden. Auch jetzt noch sehe ich die Augen mancher Kinder vor mir. Selbst wenn sie lächeln, merkt man ihnen an, was sie schon gesehen haben.

Man kann den Schmerz, die Angst, die Sorgen in den Augen der Kinder sehen und das bricht mir das Herz.

Ich habe viele Geschichten gehört in dieser Zeit: Geschichten von Kindern, die im Gefängnis geboren wurden oder von ihren Müttern an trostlose Orte gebracht werden, um dort für sie zu betteln. Geschichten von Müttern, die immer wieder versuchen, ihr Leben zu beenden, oder die für zehn Jahre ins Gefängnis müssen. Geschichten von Vätern, die auf der Flucht nach einem
Diebstahl vom Bus überfahren wurden oder einfach ihre Familien verlassen haben. Die meisten Geschichten sind unvorstellbar! Und hilfreiche Unterstützung von Jugendamt und Polizei gibt es nicht: Es sind einfach nicht genügend Kapazitäten vorhanden, um für all diese Familien Lösungen zu finden. Die Kinderheime sind vollkommen überlastet und nicht nach Altersgruppen unterteilt. Ein Kind aus dem Projekt wurde ins Kinderheim gebracht und dort vergewaltigt. Die Polizei hält sich aus vielen Situationen heraus. In den Favelas wird bei Problemen die PCC gerufen, mit der die Polizei sich nicht anlegen will. Außerdem sind viele Polizisten korrupt.

All das macht die Arbeit von educare umso bemerkenswerter für mich. Wer hier arbeitet, muss viel aushalten: erschütternde Geschichten, verstörende Bilder und die Tatsache, dass die Kinder jeden Tag wieder zurückkehren in ihr Leben mit all seinen Schrecklichkeiten. Gleichzeitig aber darf man bei educare so viel Wunderbares erleben: Strahlende Augen beim Spielen im Hof, beim
Sport oder in den Kursen, satt gegessene Kinder und ältere Jugendliche, die Verantwortung für die Jüngeren übernehmen, tanzende Kinder und Kinder, die im Gottesdienst einfach weinen müssen, weil Gott sie berührt.

Viele Kinder kommen regelmäßig und für sie ist educare ein echtes Zuhause geworden. Ein Zuhause, in dem sie Schutz erfahren und Annahme. An einem Freitag in der Freispielzeit schlichtete eine Mitarbeiterin einen Streit zwischen zwei Brüdern. Mein Portugiesisch lässt zu wünschen übrig, aber einen Satz habe ich deutlich verstanden: „Vocês não são lixo na rua!
Ihr seid kein Müll auf der Straße!“ Für mich ist das ein Bild für die Arbeit von educare – sie zeigt den Kindern, was sie sind: kein Müll auf der Straße, sondern wertvolle und geliebte Menschen. In Bezug auf die Kinder erscheint diese Botschaft leicht – sie können nichts für ihre Lage. Aber die Eltern? An meinem vorletzten Tag habe ich dabei geholfen, den großen Saal für das erste Frauencafé in der Geschichte von educare vorzubereiten. Wir waren dafür extra auf dem Nacht-Blumenmarkt und haben alles sehr schön dekoriert. Es wurde leckeres Essen vorbereitet und jede Frau sollte ein Geschenk bekommen. Während wir die Blumen in den Vasen arrangierten, unterhielt ich mich mit Elouisa. Sie sprach aus, was mir ebenfalls durch den Kopf
ging:

„Manchmal werde ich so wütend auf diese Frauen, weil sie nicht gut für ihre Kinder sorgen”, sagte sie. “Aber dann erinnere ich mich, dass sie einmal diese Kinder waren.“

Ein Bericht von Mia Winkler die educare besucht hat.